1 Blind Date (Kurzgeschichte) Do Apr 14, 2011 5:16 pm
Rahena
Hm... In letzter Zeit ist das Forum ja leider etwas ausgestorben... Hoffe, hier guckt trotzdem ab und zu noch mal jemand rein und liest das
Blind Date
Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal auf ein Blind Date einlassen würde. Trotzdem habe ich es getan. Und jetzt stehe ich hier und warte. Nicht auf mein Date, nein. Ich warte auf den Schmerz, warte auf den Tod.
Meine Eltern haben mir von diesem Treffen abgeraten. Sie haben mir gesagt, es sei gefährlich, ich wisse nicht, wer er sei. Ich habe ihre Warnungen ignoriert. Ich bin mir sicher gewesen, dass er ein ganz normaler junger Mann wäre, Anfang zwanzig (wie ich) und seinem Profilbild nach zu urteilen wahnsinnig gut aussehend. Wir haben viel geschrieben in den letzten Tagen und ich habe mich sogar in die Person verliebt, die er online vorgegeben hat zu sein. Ich hätte auf meine Eltern hören sollen.
Neben mir schluchzt Miriam. Ich würde gern die zwei Schritte, die zwischen uns liegen, überwinden und zu ihr gehen. Ich möchte ihr den Arm um die Schulter legen und sie trösten. Sie ist die jüngste von uns vieren. Die anderen beiden sind ungefähr so alt wie ich, doch Miriam schätze ich etwa auf das Alter meiner sechzehnjährigen Schwester. Wenn ich in die Gesichter von Steffi und Johanna blicke, sehe ich Angst, Schrecken und Unsicherheit. Ich weiß, dass das meine genauso aussieht. Doch in Miriams Miene erblicke ich etwas ganz anderes. Ich weiß nicht, was es ist, aber es löst sofort ein Mitleid in mir aus, das so groß ist, dass ich vergesse, selbst in derselben Situation zu sein. Ich mache mir wirklich Sorgen um die kleine.
Es knackt leicht in dem winzigen Ohrstöpsel, den ich trage und über den er Verbindung mit uns hält und uns Anweisungen gibt. Ich bekomme es wieder mit der Angst zu tun. Was würde er als nächstes von uns wollen? Bisher haben sich seine Befehle darauf beschränkt, dass wir uns einander nicht näher als zwei Meter nähern dürfen, ebenso wenig wie reden, uns hinsetzen oder uns vom Eingang des Stadtparks entfernen, vor dem wir stehen. Doch wie lange würde es so unbedeutend bleiben?
„Sie soll aufhören, zu heulen!“, brüllt er mir ins Ohr.
„Was willst du eigentlich von uns, du Psychopath?“, frage ich in das Mikrofon ohne auf seine Anweisung zu reagieren.
„Jetzt sag ihr schon, dass sie aufhören soll, zu heulen! Du sollst keine Fragen stellen, verdammt nochmal!“
„Ich könnte ihr das sagen, aber es würde nichts bringen. Lass mich wenigstens zu ihr gehen!“
„Nein!“, fährt er auf. „Nein, keiner nähert sich einer der anderen! Ihr bleibt alle, wo ihr seid! Aber sie soll aufhören, zu heulen! Man bemerkt euch noch!“
Das wäre schön, denke ich. Dann sage ich leise Miriams Namen. Sie zeigt keine Reaktion. Obwohl ich keine Ahnung habe, ob sie mich überhaupt gehört hat oder versteht, was ich sage, beginne ich, mit zittriger Stimme auf sie einzureden: „Es wird alles gut, Miriam. Du wirst schon sehen. Weine nicht, bitte!“
Mit vor Wut blitzenden Augen sieht sie mich an. „Nichts wird gut!“, zischt sie. „Du weißt das genauso gut wie ich! Er wird uns hier foltern und dann bringt er uns um!“
„Sie soll nicht reden!“, ruft die Stimme in meinem Ohr dazwischen, doch ich ignoriere sie.
„Nein, sag das nicht. Er wird uns nicht umbringen. Glaub daran, dann schaffen wir das schon. Es wird jemand kommen und uns retten. Ich bin mir sicher.“
„Niemand wird kommen!“, kreischt Miriam hysterisch. Einige Passanten drehen sich zu uns um. Gut. „Niemand wird uns retten“, flüstert sie mit gebrochener Stimme. „Sei nicht so ignorant. Wer sollte kommen? Wie sollte jemand von uns wissen? Was könnte...“
Sie kommt nicht dazu, auszusprechen, denn plötzlich geht alles ganz schnell: Etwas zischt, dann knickt Miriam in den Knien ein, fällt hart auf den Boden und reißt die Augen vor Schrecken und Schmerz weit auf. Unter ihrem linken Knie breitet sich rasch eine Blutlache aus. Sie schreit nicht. Sie weint auch nicht mehr. Sie gibt kein Geräusch von sich, sondern starrt nur mit weit aufgerissenen Augen auf ihr zerschossenes Knie. Johanna und Steffi schreien dafür umso lauter. Was ich selbst in dem Moment tue, merke ich nicht.
„Ich habe dir gesagt, sie soll nicht reden“, kommt es aus meinem Ohrstöpsel. „Jetzt geh zu ihr und hilf ihr. Ich will nicht, dass sie verblutet, ich brauche sie noch!“
Ich stehe stocksteif da. Ich bin nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Bisher habe ich mich an die Hoffnung geklammert, er würde nicht ernst machen. Jetzt hat er das getan. Die Lage ist ernst. Vielleicht hat Miriam tatsächlich recht und er wird uns eine nach der anderen langsam und schmerzvoll sterben lassen. Aber warum hat er dafür einen so belebten Ort wie den Stadtpark gewählt? Nein, er würde uns nicht umbringen, nicht an einem Ort wie diesem. Was hat er nur mit uns vor?
„Na los!“, ruft er. „Mach schon! Oder willst du die nächste sein, die eine Kugel im Bein hat? Oder vielleicht suche ich mir auch eine Stelle aus, wo sie dir besser stehen würde. Dein hübsches Gesicht vielleicht? Ich wäre auch ernsthaft daran interessiert, wie du wohl ohne deine rechte Hand weiter Geige spielen kannst.“ Er lacht hämisch.
Ich fluche innerlich. Warum musste er nur so verdammt viel über mich wissen? Ich hätte ihm im Chat nicht so viel über mich schreiben dürfen. Auch das haben meine Eltern mir geraten. Ich schwöre mir, dass ich ihnen öfter vertrauen werde, sollte ich hier heil rauskommen. Ich überwinde meine Starre und stolpere auf Miriam zu. Ich knie mich in das Blut auf dem Boden. Miriams Blut, das aus einem völlig nichtigen Grund vergossen worden ist. Jetzt nehme ich sie in den Arm, so wie ich es die ganze Zeit gewollt habe. Ich merke, wie sehr sie zittert. Ich ziehe meine dünne Sommerjacke aus und reiße einen Streifen Stoff hinaus. Ich verbinde Miriams Bein so gut es geht. Als ich fertig bin, greife ich unter ihre Arme und ziehe sie zu der kleinen Mauer, die den Park umrandet, damit sie sich mit dem Rücken dort anlehnen kann.
„Bist du jetzt zufrieden?“, frage ich den Mann abfällig.
„Fürs erste ja“, antwortet er belustigt.
„Sie muss ins Krankenhaus“, versuche ich ihm ins Gewissen zu reden. Der Stofffetzen, mit dem ich sie verbunden habe, färbt sich in immer tiefer werdendem Rot.
„Wir werden sehen, wann sie dort hinkommen wird. Erst habe ich noch etwas vor mit euch.“
„Und was soll das sein?“, frage ich verzweifelt. „Miriam ist schwer verletzt, das Spiel ist vorbei! Sag uns, was du von uns willst oder lass uns am besten einfach in ruhe!“ Ich weine vor Wut und Verzweiflung, aber das merke ich kaum.
„Du irrst dich, meine liebe Vanessa. Das Spiel hat gerade erst begonnen und wann es vorbei ist, bestimme ich!“ Es knackt. Er hat die Verbindung wieder getrennt. Hasserfüllt blicke ich mich um. Irgendwo muss er sein. Nur wo? Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn zumindest eines Vorteils beraubt.
„Darüber redest du mit ihm, oder?“, fragt mich Miriam mit zittriger Stimme und deutet auf das kleine Mikrofon, das an meinem T-Shirt hängt.
Ich nicke. „Ja, das hat er mir gegeben. Ich wüsste nur gern, warum mir und nicht...“
Weiter komme ich nicht, denn plötzlich brüllt Miriam in das Mikrofon: „Du Schwein! Lass uns endlich gehen!“
„Sie soll leise sein!“, ruft gleichzeitig der Mann in meinem Ohr.
„Was haben wir dir getan? Lass uns in Ruhe!“
„Letzte Chance: Bring sie jetzt zur Ruhe!“
„Ich will hier endlich weg! Hörst du? Es ist mir egal, was du mit mir machst! Von mir aus schieß mir auch noch das andere Knie kaputt, nur bitte lass uns endlich hier weg!“ Miriams Gesicht ist tränenüberströmt. Sie will weitersprechen, doch ihre Stimme versagt, sie muss husten.
„Du hattest die Chance.“ Irre ich mich oder klingt er mitleidig? Ich bin mir sicher, dass ich mich irre.
Plötzlich höre ich wieder dieses schreckliche Pfeifgeräusch. Und noch einmal. Und ein drittes Mal. Dann ist alles ruhig. Zu ruhig. Miriam schluchzt nicht mehr. Ich höre sie gar nicht mehr. Ich wende den Kopf in ihre Richtung. Sie ist jetzt von noch viel mehr Blut besudelt als noch vor wenigen Sekunden. Aus drei Löchern in ihrer Brust fließen warme, rote Bäche. Ihre Augen sind leer. Die Arme hängen schlaff hinab. Ich starre sie entsetzt an.
„Was... was hast du...?“ Ich schaffe es nicht, den Satz zu beenden, ich bin zu erschrocken über das, was ich sehe.
„Ich habe dich gewarnt“, sagt er mit ausdrucksloser Stimme. „Ich habe dir gesagt, du sollst sie zum Schweigen bringen. Und da du das nicht getan hast, musste ich es tun. Jetzt wisst ihr, was passiert, wenn ihr euch nicht an meine Regeln...“
„Entschuldigen Sie“, quäkt eine schrille Frauenstimme in meinem Ohr dazwischen. In jeder anderen Situation hätte sie grausam geklungen, jetzt war sie die Stimme eines Engels. „Ob Sie wohl so nett wären, mir den Weg zum Hafen zu erklären?“
Noch während die Frau spricht, springe ich auf. Ich weiß nicht, woher diese plötzliche Klarheit in meinen Gedanken kommt, aber ich bin sicher, dass jetzt vielleicht die einzige Möglichkeit sein könnte, aus diesem Wahnsinn zu entkommen. Plötzlich weiß ich genau, was zu tun ist. Mit einer Sicherheit, die ich mir selbst nicht erklären kann, weiß ich, dass wir keine zweite Chance bekommen werden.
Mit der linken Hand decke ich das Mikrofon ab. „Lauft“, flüstere ich den anderen beiden zu. Ich habe Angst, er könnte mich trotzdem hören. Ohne darauf zu achten, ob sie meiner Aufforderung folgen, renne ich auf die andere Straßenseite. Neben mir quietschen Autoreifen und der Fahrer hupt wütend. Ich drehe mich nicht einmal nach dem Wagen um. Im Lauf reiße ich den Ohrstöpsel aus meinem Ohr, entferne das Mikrofon von meinem T-Shirt und werfe beides in hohem Bogen von mir.
Ohne mein Tempo nennenswert zu verringern laufe ich nach rechts weiter. Wie eine leuchtende Festung ragt die Fassade der Bibliothek vor mir auf. Ich stürze förmlich durch die große Flügeltür. Ich sehe mich einen Moment suchend um. Ich bin in meinem ganzen Leben vielleicht zwei- oder dreimal hier gewesen. Ich kenne mich nicht aus. Ich hoffe, dass es dem Mann, der jetzt garantiert hinter mir her ist, genauso geht.
Wahllos laufe ich in eine Richtung. Ich quetsche mich zwischen zwei alten Frauen durch, deren tadelnde Blicke ich noch lange in meinem Rücken spüre. Dann sehe ich plötzlich eine Tür. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte lass sie nicht verschlossen sein! Ich drücke die Klinke hinab und ohne den geringsten Widerstand schwingt die Tür nach innen. Ich stürze hindurch und schlage sie hastig hinter mir zu.
Ich sehe mich gehetzt um. Ich scheine mich in einer Art Pausenraum für die Mitarbeiter zu befinden. Ein Wunder, dass er nicht verschlossen war, schießt es durch meinen Kopf.
Ich werde hier bleiben. Wenn ich jetzt die Tür öffnen würde und er gerade in dem Moment draußen vorbeispazieren würde, wäre es aus. Ich muss hier drinnen bleiben. Ich blicke mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, falls er mich auch hinter dieser Tür suchen würde. Es gab nur ein Fenster. Mit einem schnellen Blick stellte ich fest, dass es von außen vergittert war. Ich saß in der Falle.
Plötzlich höre ich ein Geräusch, von dem ich in den letzten Momenten nicht einmal mehr zu träumen gewagt hätte: Ein Martinshorn. Oder sind es zwei? Auf jeden Fall kommt das Geräusch näher. Durch das kleine Fenster sehe ich Blaulicht flackern. Ich atme erleichtert aus. Dann wird das Geräusch langsam wieder leiser. Es entfernt sich. Das blaue Leuchten verschwindet. Ich falle auf die Knie. Das kann nicht wahr sein! Sie sind so nah gewesen. Warum fahren sie vorbei? Ich starre noch einen Moment aus dem Fenster, doch ich sehe nichts. Kein Blaulicht, kein vorbeifahrendes Polizeiauto, keine Polizisten, die einen Mann in Handschellen abführen.
Ich rapple mich auf und sehe mich erneut panisch um. Ich entdecke Spinde. Einer von ihnen ist nicht ganz geschlossen. Mit letzter Kraft schleppe ich mich hinüber, setze mich zu einer Jacke, einer Handtasche und einem Buch und ziehe die Tür hinter mir zu. Es ist eng. Ich weiß, dass ich jetzt noch mehr in der Falle sitze, als eben schon. Das intelligenteste wäre es wahrscheinlich gewesen, den Raum sofort wieder zu verlassen und mir ein Versteck mit Fluchtmöglichkeit zu suchen oder einen Bibliotheksmitarbeiter mit Telefon, doch ich kann jetzt nicht mehr rational denken.
Plötzlich höre ich Geräusche von außerhalb des kleinen Pausenraumes. Ich höre, wie die Tür gewaltsam aufgerissen wird. Ich höre Schritte. Jetzt hat er mich gleich, denke ich. Ich denke es ohne jegliches Gefühl. Ich habe keine Angst mehr, ich kann mich einfach nicht mehr fürchten. Ich kann nichts mehr fühlen. Es ist, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt und somit jegliche Emotion blockiert.
„Der Bibliothekar sagte, sie sei hier rein gelaufen“, hörte ich ihn sagen.
„Aber wo ist sie?“, fragt eine andere Stimme.
Wer ist der andere? Hat er einen Komplizen? Warum habe ich ihn nicht gesehen oder gehört als ich noch mit den anderen am Park gestanden habe?
Ein Handy klingelt. Einer der Männer meldet sich. Schon nach wenigen Sekunden scheint das Gespräch beendet zu sein.
„Wir müssen sie finden, Arne. Sie ist jetzt die einzige Zeugin. Die Kollegen haben gerade die dritte Leiche gefunden.“
Blind Date
Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal auf ein Blind Date einlassen würde. Trotzdem habe ich es getan. Und jetzt stehe ich hier und warte. Nicht auf mein Date, nein. Ich warte auf den Schmerz, warte auf den Tod.
Meine Eltern haben mir von diesem Treffen abgeraten. Sie haben mir gesagt, es sei gefährlich, ich wisse nicht, wer er sei. Ich habe ihre Warnungen ignoriert. Ich bin mir sicher gewesen, dass er ein ganz normaler junger Mann wäre, Anfang zwanzig (wie ich) und seinem Profilbild nach zu urteilen wahnsinnig gut aussehend. Wir haben viel geschrieben in den letzten Tagen und ich habe mich sogar in die Person verliebt, die er online vorgegeben hat zu sein. Ich hätte auf meine Eltern hören sollen.
Neben mir schluchzt Miriam. Ich würde gern die zwei Schritte, die zwischen uns liegen, überwinden und zu ihr gehen. Ich möchte ihr den Arm um die Schulter legen und sie trösten. Sie ist die jüngste von uns vieren. Die anderen beiden sind ungefähr so alt wie ich, doch Miriam schätze ich etwa auf das Alter meiner sechzehnjährigen Schwester. Wenn ich in die Gesichter von Steffi und Johanna blicke, sehe ich Angst, Schrecken und Unsicherheit. Ich weiß, dass das meine genauso aussieht. Doch in Miriams Miene erblicke ich etwas ganz anderes. Ich weiß nicht, was es ist, aber es löst sofort ein Mitleid in mir aus, das so groß ist, dass ich vergesse, selbst in derselben Situation zu sein. Ich mache mir wirklich Sorgen um die kleine.
Es knackt leicht in dem winzigen Ohrstöpsel, den ich trage und über den er Verbindung mit uns hält und uns Anweisungen gibt. Ich bekomme es wieder mit der Angst zu tun. Was würde er als nächstes von uns wollen? Bisher haben sich seine Befehle darauf beschränkt, dass wir uns einander nicht näher als zwei Meter nähern dürfen, ebenso wenig wie reden, uns hinsetzen oder uns vom Eingang des Stadtparks entfernen, vor dem wir stehen. Doch wie lange würde es so unbedeutend bleiben?
„Sie soll aufhören, zu heulen!“, brüllt er mir ins Ohr.
„Was willst du eigentlich von uns, du Psychopath?“, frage ich in das Mikrofon ohne auf seine Anweisung zu reagieren.
„Jetzt sag ihr schon, dass sie aufhören soll, zu heulen! Du sollst keine Fragen stellen, verdammt nochmal!“
„Ich könnte ihr das sagen, aber es würde nichts bringen. Lass mich wenigstens zu ihr gehen!“
„Nein!“, fährt er auf. „Nein, keiner nähert sich einer der anderen! Ihr bleibt alle, wo ihr seid! Aber sie soll aufhören, zu heulen! Man bemerkt euch noch!“
Das wäre schön, denke ich. Dann sage ich leise Miriams Namen. Sie zeigt keine Reaktion. Obwohl ich keine Ahnung habe, ob sie mich überhaupt gehört hat oder versteht, was ich sage, beginne ich, mit zittriger Stimme auf sie einzureden: „Es wird alles gut, Miriam. Du wirst schon sehen. Weine nicht, bitte!“
Mit vor Wut blitzenden Augen sieht sie mich an. „Nichts wird gut!“, zischt sie. „Du weißt das genauso gut wie ich! Er wird uns hier foltern und dann bringt er uns um!“
„Sie soll nicht reden!“, ruft die Stimme in meinem Ohr dazwischen, doch ich ignoriere sie.
„Nein, sag das nicht. Er wird uns nicht umbringen. Glaub daran, dann schaffen wir das schon. Es wird jemand kommen und uns retten. Ich bin mir sicher.“
„Niemand wird kommen!“, kreischt Miriam hysterisch. Einige Passanten drehen sich zu uns um. Gut. „Niemand wird uns retten“, flüstert sie mit gebrochener Stimme. „Sei nicht so ignorant. Wer sollte kommen? Wie sollte jemand von uns wissen? Was könnte...“
Sie kommt nicht dazu, auszusprechen, denn plötzlich geht alles ganz schnell: Etwas zischt, dann knickt Miriam in den Knien ein, fällt hart auf den Boden und reißt die Augen vor Schrecken und Schmerz weit auf. Unter ihrem linken Knie breitet sich rasch eine Blutlache aus. Sie schreit nicht. Sie weint auch nicht mehr. Sie gibt kein Geräusch von sich, sondern starrt nur mit weit aufgerissenen Augen auf ihr zerschossenes Knie. Johanna und Steffi schreien dafür umso lauter. Was ich selbst in dem Moment tue, merke ich nicht.
„Ich habe dir gesagt, sie soll nicht reden“, kommt es aus meinem Ohrstöpsel. „Jetzt geh zu ihr und hilf ihr. Ich will nicht, dass sie verblutet, ich brauche sie noch!“
Ich stehe stocksteif da. Ich bin nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Bisher habe ich mich an die Hoffnung geklammert, er würde nicht ernst machen. Jetzt hat er das getan. Die Lage ist ernst. Vielleicht hat Miriam tatsächlich recht und er wird uns eine nach der anderen langsam und schmerzvoll sterben lassen. Aber warum hat er dafür einen so belebten Ort wie den Stadtpark gewählt? Nein, er würde uns nicht umbringen, nicht an einem Ort wie diesem. Was hat er nur mit uns vor?
„Na los!“, ruft er. „Mach schon! Oder willst du die nächste sein, die eine Kugel im Bein hat? Oder vielleicht suche ich mir auch eine Stelle aus, wo sie dir besser stehen würde. Dein hübsches Gesicht vielleicht? Ich wäre auch ernsthaft daran interessiert, wie du wohl ohne deine rechte Hand weiter Geige spielen kannst.“ Er lacht hämisch.
Ich fluche innerlich. Warum musste er nur so verdammt viel über mich wissen? Ich hätte ihm im Chat nicht so viel über mich schreiben dürfen. Auch das haben meine Eltern mir geraten. Ich schwöre mir, dass ich ihnen öfter vertrauen werde, sollte ich hier heil rauskommen. Ich überwinde meine Starre und stolpere auf Miriam zu. Ich knie mich in das Blut auf dem Boden. Miriams Blut, das aus einem völlig nichtigen Grund vergossen worden ist. Jetzt nehme ich sie in den Arm, so wie ich es die ganze Zeit gewollt habe. Ich merke, wie sehr sie zittert. Ich ziehe meine dünne Sommerjacke aus und reiße einen Streifen Stoff hinaus. Ich verbinde Miriams Bein so gut es geht. Als ich fertig bin, greife ich unter ihre Arme und ziehe sie zu der kleinen Mauer, die den Park umrandet, damit sie sich mit dem Rücken dort anlehnen kann.
„Bist du jetzt zufrieden?“, frage ich den Mann abfällig.
„Fürs erste ja“, antwortet er belustigt.
„Sie muss ins Krankenhaus“, versuche ich ihm ins Gewissen zu reden. Der Stofffetzen, mit dem ich sie verbunden habe, färbt sich in immer tiefer werdendem Rot.
„Wir werden sehen, wann sie dort hinkommen wird. Erst habe ich noch etwas vor mit euch.“
„Und was soll das sein?“, frage ich verzweifelt. „Miriam ist schwer verletzt, das Spiel ist vorbei! Sag uns, was du von uns willst oder lass uns am besten einfach in ruhe!“ Ich weine vor Wut und Verzweiflung, aber das merke ich kaum.
„Du irrst dich, meine liebe Vanessa. Das Spiel hat gerade erst begonnen und wann es vorbei ist, bestimme ich!“ Es knackt. Er hat die Verbindung wieder getrennt. Hasserfüllt blicke ich mich um. Irgendwo muss er sein. Nur wo? Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn zumindest eines Vorteils beraubt.
„Darüber redest du mit ihm, oder?“, fragt mich Miriam mit zittriger Stimme und deutet auf das kleine Mikrofon, das an meinem T-Shirt hängt.
Ich nicke. „Ja, das hat er mir gegeben. Ich wüsste nur gern, warum mir und nicht...“
Weiter komme ich nicht, denn plötzlich brüllt Miriam in das Mikrofon: „Du Schwein! Lass uns endlich gehen!“
„Sie soll leise sein!“, ruft gleichzeitig der Mann in meinem Ohr.
„Was haben wir dir getan? Lass uns in Ruhe!“
„Letzte Chance: Bring sie jetzt zur Ruhe!“
„Ich will hier endlich weg! Hörst du? Es ist mir egal, was du mit mir machst! Von mir aus schieß mir auch noch das andere Knie kaputt, nur bitte lass uns endlich hier weg!“ Miriams Gesicht ist tränenüberströmt. Sie will weitersprechen, doch ihre Stimme versagt, sie muss husten.
„Du hattest die Chance.“ Irre ich mich oder klingt er mitleidig? Ich bin mir sicher, dass ich mich irre.
Plötzlich höre ich wieder dieses schreckliche Pfeifgeräusch. Und noch einmal. Und ein drittes Mal. Dann ist alles ruhig. Zu ruhig. Miriam schluchzt nicht mehr. Ich höre sie gar nicht mehr. Ich wende den Kopf in ihre Richtung. Sie ist jetzt von noch viel mehr Blut besudelt als noch vor wenigen Sekunden. Aus drei Löchern in ihrer Brust fließen warme, rote Bäche. Ihre Augen sind leer. Die Arme hängen schlaff hinab. Ich starre sie entsetzt an.
„Was... was hast du...?“ Ich schaffe es nicht, den Satz zu beenden, ich bin zu erschrocken über das, was ich sehe.
„Ich habe dich gewarnt“, sagt er mit ausdrucksloser Stimme. „Ich habe dir gesagt, du sollst sie zum Schweigen bringen. Und da du das nicht getan hast, musste ich es tun. Jetzt wisst ihr, was passiert, wenn ihr euch nicht an meine Regeln...“
„Entschuldigen Sie“, quäkt eine schrille Frauenstimme in meinem Ohr dazwischen. In jeder anderen Situation hätte sie grausam geklungen, jetzt war sie die Stimme eines Engels. „Ob Sie wohl so nett wären, mir den Weg zum Hafen zu erklären?“
Noch während die Frau spricht, springe ich auf. Ich weiß nicht, woher diese plötzliche Klarheit in meinen Gedanken kommt, aber ich bin sicher, dass jetzt vielleicht die einzige Möglichkeit sein könnte, aus diesem Wahnsinn zu entkommen. Plötzlich weiß ich genau, was zu tun ist. Mit einer Sicherheit, die ich mir selbst nicht erklären kann, weiß ich, dass wir keine zweite Chance bekommen werden.
Mit der linken Hand decke ich das Mikrofon ab. „Lauft“, flüstere ich den anderen beiden zu. Ich habe Angst, er könnte mich trotzdem hören. Ohne darauf zu achten, ob sie meiner Aufforderung folgen, renne ich auf die andere Straßenseite. Neben mir quietschen Autoreifen und der Fahrer hupt wütend. Ich drehe mich nicht einmal nach dem Wagen um. Im Lauf reiße ich den Ohrstöpsel aus meinem Ohr, entferne das Mikrofon von meinem T-Shirt und werfe beides in hohem Bogen von mir.
Ohne mein Tempo nennenswert zu verringern laufe ich nach rechts weiter. Wie eine leuchtende Festung ragt die Fassade der Bibliothek vor mir auf. Ich stürze förmlich durch die große Flügeltür. Ich sehe mich einen Moment suchend um. Ich bin in meinem ganzen Leben vielleicht zwei- oder dreimal hier gewesen. Ich kenne mich nicht aus. Ich hoffe, dass es dem Mann, der jetzt garantiert hinter mir her ist, genauso geht.
Wahllos laufe ich in eine Richtung. Ich quetsche mich zwischen zwei alten Frauen durch, deren tadelnde Blicke ich noch lange in meinem Rücken spüre. Dann sehe ich plötzlich eine Tür. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte lass sie nicht verschlossen sein! Ich drücke die Klinke hinab und ohne den geringsten Widerstand schwingt die Tür nach innen. Ich stürze hindurch und schlage sie hastig hinter mir zu.
Ich sehe mich gehetzt um. Ich scheine mich in einer Art Pausenraum für die Mitarbeiter zu befinden. Ein Wunder, dass er nicht verschlossen war, schießt es durch meinen Kopf.
Ich werde hier bleiben. Wenn ich jetzt die Tür öffnen würde und er gerade in dem Moment draußen vorbeispazieren würde, wäre es aus. Ich muss hier drinnen bleiben. Ich blicke mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, falls er mich auch hinter dieser Tür suchen würde. Es gab nur ein Fenster. Mit einem schnellen Blick stellte ich fest, dass es von außen vergittert war. Ich saß in der Falle.
Plötzlich höre ich ein Geräusch, von dem ich in den letzten Momenten nicht einmal mehr zu träumen gewagt hätte: Ein Martinshorn. Oder sind es zwei? Auf jeden Fall kommt das Geräusch näher. Durch das kleine Fenster sehe ich Blaulicht flackern. Ich atme erleichtert aus. Dann wird das Geräusch langsam wieder leiser. Es entfernt sich. Das blaue Leuchten verschwindet. Ich falle auf die Knie. Das kann nicht wahr sein! Sie sind so nah gewesen. Warum fahren sie vorbei? Ich starre noch einen Moment aus dem Fenster, doch ich sehe nichts. Kein Blaulicht, kein vorbeifahrendes Polizeiauto, keine Polizisten, die einen Mann in Handschellen abführen.
Ich rapple mich auf und sehe mich erneut panisch um. Ich entdecke Spinde. Einer von ihnen ist nicht ganz geschlossen. Mit letzter Kraft schleppe ich mich hinüber, setze mich zu einer Jacke, einer Handtasche und einem Buch und ziehe die Tür hinter mir zu. Es ist eng. Ich weiß, dass ich jetzt noch mehr in der Falle sitze, als eben schon. Das intelligenteste wäre es wahrscheinlich gewesen, den Raum sofort wieder zu verlassen und mir ein Versteck mit Fluchtmöglichkeit zu suchen oder einen Bibliotheksmitarbeiter mit Telefon, doch ich kann jetzt nicht mehr rational denken.
Plötzlich höre ich Geräusche von außerhalb des kleinen Pausenraumes. Ich höre, wie die Tür gewaltsam aufgerissen wird. Ich höre Schritte. Jetzt hat er mich gleich, denke ich. Ich denke es ohne jegliches Gefühl. Ich habe keine Angst mehr, ich kann mich einfach nicht mehr fürchten. Ich kann nichts mehr fühlen. Es ist, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt und somit jegliche Emotion blockiert.
„Der Bibliothekar sagte, sie sei hier rein gelaufen“, hörte ich ihn sagen.
„Aber wo ist sie?“, fragt eine andere Stimme.
Wer ist der andere? Hat er einen Komplizen? Warum habe ich ihn nicht gesehen oder gehört als ich noch mit den anderen am Park gestanden habe?
Ein Handy klingelt. Einer der Männer meldet sich. Schon nach wenigen Sekunden scheint das Gespräch beendet zu sein.
„Wir müssen sie finden, Arne. Sie ist jetzt die einzige Zeugin. Die Kollegen haben gerade die dritte Leiche gefunden.“