1. Kapitel
~Ein persönlicher Auftrag für Toni~
Seit zwei Stunden lag er jetzt schon in diesem klapprigen Bett und konnte nicht einschlafen. Im Arm hielt er seine schlafende Freundin Anette. Wie sie bei dem Lärm hatte einschlafen können, war ihm unbegreiflich. Trotz geschlossenem Fenster war der Verkehr der Hauptstraße, vor dem Apartment, deutlich zu hören. Es verging keine halbe Stunde, ohne das ein Streifenwagen mit Blaulicht vorbei fuhr. Die Mieter nebenan hatten sich das dritte Mal in dieser Nacht die Köpfe eingeschlagen. Immer wieder dröhnten ihre Beschimpfungen und Flüche durch die dünnen Wände:
“Halts Maul du Schlampe!”
“Fick dich du Bastard!” Toni schüttelte mit dem Kopf. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte die beiden Streithähne erschossen, damit wieder Ruhe war. Sein Blick glitt zum Nachtschränkchen, auf dem seine Neunmillimeterpistole lag. Seine Hand ballte er unter der Decke zur Faust, bereit seinen Plan in die Tat umzusetzen, wenn nicht gleich Ruhe einkehrte.
Neben ihm regte sich etwas, erschrocken sah er zur Seite. Seine Tochter drehte sich von einer auf die andere Seite. Sie lag zwischen ihm und Anette und murmelte unverständlich im Schlaf. Sicher würde sie gleich aufwachen, wenn der Lärm nebenan weiter ging. Das blonde Mädchen mit den lockigen Haaren rollte sich zu einer Kugel zusammen und presste sich eng an ihre Mutter. Die kleinen Finger verkrampften sich in Anettes Nachthemd. Ein leises Seufzen kam über die Lippen seiner Freundin. Instinktiv legte sie ihren Arm um die Tochter, ohne augenscheinlich davon aufzuwachen. Toni beobachtete die Szene besorgt, dann drehte er seinen Blick zur Wand, hinter der die störenden Stimmen entstanden. Es war wieder ruhig geworden. Während er hoffte, dass es so blieb, kündigte sich mit lautem Sirenengeheul ein Streifenwagen an. Das Zimmer wurde in blauweißem Licht gebadet.
Kira drehte sich von ihrer Mutter zu ihm. Ihre im Schlaf gesprochenen Worte wurden zu einem herzzereisenden Wimmern. Ihre kleinen Finger gruben sich in Tonis Unterarm, heiße Tränen fielen ihm auf den Oberkörper. Sie hatte sicher wieder einen Alptraum gehabt und das Sirenengeheul hatte sie zusätzlich erschreckt. Wie er dieses Apartment hasste, aber er konnte sich kein anderes leisten.
Mit seiner freien Hand fuhr Toni Kira über den Rücken. Ihre weiche Haut war ganz kalt und das, obwohl sie zwischen ihnen lag. Seit zwei Monaten hatten sie kein Geld mehr für die Gas- und Stromrechnung gehabt und das im tiefsten Winter. Toni hob seine Decke von sich und legte sie zusätzlich um Kira. Nur langsam begann sie sich wieder zu beruhigen. Toni wischte ihr die Tränen mit dem Daumen von den schmalen Wangen und gab ihr einen Kuss auf ihre blonden Locken, dann schob er das Kind von sich. Er konnte einfach nicht mehr still liegen bleiben. Auch Anettes Kopf schob er von seiner Schulter und legte sie im Kopfkissen ab, dann stand er auf. Mit beiden Händen fuhr er sich durch das Gesicht und über seine brennenden Augen. Das war die zweite Nacht, in der er kein Auge zugemacht hatte. Er seufzte schwer, als er sich eingestand, dass es auch heute Nacht keinen Sinn machte. Toni ging zwei Schritte weiter auf einen Stuhl zu. Er griff nach dem Hemd, das er über die Stuhllehne gehängt hatte und zog es sich über. Seine Hose hatte er noch an, in weiser Voraussicht, dass er sich nicht lange ausruhen wollte.
Wieder waren aus dem Nachbarapartment Stimmen zu hören. Die Lautstärke war gedämpfter als zuvor, so dass er die Worte nicht mehr verstehen konnte. Das änderte jedoch nichts daran, dass dieses streitende Ehepaar ihm auf die Nerven ging.
Toni suchte den Boden nach seinen Schuhen ab. Er musste von hier verschwinden, bevor ein Unglück geschah. Neben dem Bett wurde er fündig. Leise schlich er an den Rand des Ehebettes zurück und setzte sich auf die Matratze. Anette und Kira schliefen noch so, wie er sie zurück gelassen hatte. Ein sanfter Ausdruck schlich sich auf seine dunklen Gesichtszüge. Sie sahen wie zwei Engel aus, die etwas Besseres als dieses Leben verdient hatten. Auch wenn Anette es ihm verboten hatte, auch wenn sie ihn immer wieder zu ehrlicher Arbeit anhielt, er würde gehen und sich das nötige Geld besorgen, damit sie endlich hier ausziehen konnten. Fest entschlossen wandte er sich seinen Schuhen zu und zog sie sich an. Einen konkreten Plan hatte er zwar noch nicht im Kopf, aber der würde ihm unterwegs schon noch einfallen. Hauptsache er hatte einen Grund, der es rechtfertigte, seine Familie hier allein zurück zu lassen. Der Gedanke Geld zu beschaffen, reichte zumindest aus, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Nachdem er seine Schuhe fest verschnürt hatte, stand Toni auf. Mit langsamen Schritten ging er zum Nachtisch. Beiläufig griff er nach seiner Pistole, während sein Blick zur Apartmenttür glitt. Gedanklich war er bereits auf der Straße. Er würde zu Aaron fahren und sich von ihm einen neuen Job geben lassen. Immer wieder war der alte Mann, mit dem er schon seit Jahren zusammen arbeitete, auf ihn zugekommen. Stets hatte er ihn enttäuschen müssen. Aufträge gab es in diesen Zeiten mehr als genug und Toni wusste, dass er der beste Scharfschütze weit und breit war, aber Anette zu liebe hatte er sich von seinem alten Leben distanziert. Auch wenn sie sicher recht damit hatte, es musste endlich etwas geschehen, bevor sie drei noch unter der Brücke schlafen mussten. Sein Job am Hafen brachte so wenig ein, dass er nur die Miete bezahlen konnten und Anette verdiente als Krankenschwester gerade mal so viel, um ihre kleine Familie mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Zeiten waren hart geworden. Susen, Anettes Arbeitsgeberin und ihr Ehemann Raphael kamen selbst kaum über die Runden, seit die Drachen die Krankenhäuser der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten, und die Kunden in ihrer Praxis ausblieben. Mit ehrlicher Arbeit war eben noch keiner reich geworden.
Toni legte seine Finger um den Griff der Waffe und nahm sie an sich. Er wollte sie gerade in seinen Hosenbund stecken, als Anette erwachte. Erschrocken sah sie ihn an und griff nach seiner Hand. Er spürte ihre kalten Finger um sein Handgelenk. Wild musterten ihn Anettes Augen. Sie ahnte was er vorhatte, das konnte Toni ihr ansehen.
“Wo willst du hin?”, wollte sie von ihm mit zitternder Stimme wissen.
“Ich geh unsere Nachbarn erschießen!”, kam ganz automatisch über seine Lippen. Der Gedanke gefiel ihm noch immer, besonders jetzt, wo ihre wilden Anschuldigungen wieder laut genug wurden, um sie verstehen zu können: “Du Hure, du hast zu tun, was ich dir sage!”
“Nein, aahhhhh du tust mir weh! Lass los! Du brichst mir den Arm!”
Toni sah verächtlich an die Wand, hinter der die Stimmen ihren Ursprung hatten. Es war ganz einfach, er brauchte nur einen Schalldämpfer aufschrauben, klingeln und zwei Schüsse abgeben.
“Toni!” Anettes flehende Stimme ließ ihn diesen Gedankengang vergessen. Er wand seinen Blick wieder ihr zu. Eindringlich sah sie ihn an. Toni wusste was sie sagen wollte, ohne das sie miteinander sprachen mussten. Er sollte sich wieder zu ihr ins Bett legen und Ruhe bewahren.
“Das war nur ein Spaß gewesen”, log er. In Wahrheit hätte er keine Skrupel davor gehabt, dieses Ehepaar zum Schweigen zu bringen.
“Wo willst du dann hin?”, ließ Anette nicht locker. Noch immer hielt sie seine Hand am Gelenk in ihrem eisernen Griff gefangen.
“Ich brauch nur etwas frische Luft”, log er wieder. Skeptisch sah Anette ihn an. Ihr Griff wurde noch fester und ihre Gesichtszüge ernster.
“Toni! Mach keinen Scheiß! Deine Familie braucht dich, du kannst dir nicht leisten in den Bau zu gehen!” Toni rollte nur mit den Augen. Immer wieder die selbe Leier. Er war jetzt seit seinem 14. Lebensjahr Auftragskiller und nie hatte man ihn mit den Morden, die er begangen hatte, in Verbindung gebracht. Er war ein Profi, auch wenn er sich seit Kira auf der Welt war, keine offiziellen Jobs mehr hatte geben lassen. Das Problem an seiner Arbeit war bestimmt nicht die Polizei, sondern viel mehr die Männer, die er töten sollte. Aber die Gefahr ins Gefängnis zu kommen hörte sich für Anette scheinbar besser an, als die Angst auszusprechen, dass er von einem der Drachen aus Rache umgelegt wurde. Dabei war es doch Toni, der allen Grund hatte endlich mal wieder auf Drachenjagd zu gehen. Bei diesem Gedanken begann es ihm in den Fingern zu jucken. Es war inzwischen schon eine ganze Woche her, seit er den letzten Mann aus diesem verdammten Clan umgelegt hatte. Das Loch im Kopf hatte ihm besser gestanden, als die hässliche schwarze Mütze, die er aufgehabt hatte. Während Toni in Erinnerungen schwelgte, zeichnete sich auf seinen Lippen ein gefährliches Lächeln ab.
“Toni, du hast mir was versprochen!”, rief Anette ihn an. Ihr waren seine Gedanken sicher nicht verborgen geblieben, immerhin kannte sie ihn gut genug. Toni drängt das Lächeln von seinen Lippen und zwang seiner Stimmer einen überzeugend klingenden Ton auf, als er sie wissen ließ:
“Ich will nur frische Luft schnappen, mehr nicht!”
“Wenn du noch einen Menschen umbringst, sind Kira und ich weg”, drohte sie.
“Ich weiß!”, entgegnete er ihr so ruhig wie möglich. Diese Drohung sprach Anette nun schon seit vier Jahren aus. Es war schon zu einem festen Ritual zwischen ihnen geworden. Obwohl Toni ihr nie etwas von seinen Aufträgen und den Dingen erzählte, die er Nachts tat, wenn er nicht einschlafen konnte, war er sich sicher, dass sie wusste, dass er auch vor einer Woche wieder getötet hatte. Immerhin hatte sie das Blut an seinem Hemd gesehen, als sie es waschen musste. Gesagt hatte sie jedoch nichts. Es war eine leere Drohung, mit der sie sich erhoffte ein wenig Normalität in ihre gemeinsames Leben erzwingen zu können, als wenn je etwas darin normal gewesen wäre.
Anettes Augen begannen ihn noch einmal zu mustern, dann endlich gab sie seine Hand frei.
“Sei bis zum Sonnenaufgang wieder da! Du musst morgen Arbeiten!”, ließ sie ihn noch wissen. Ein Seufzer kam ihr über die Lippen. Sie wusste das er tat, was er für richtig hielt und sie daran nichts ändern konnte.
“Das werde ich”, versicherte Toni ihr. Nun endlich konnte er die Waffe in seinem Hosenbund verstauen und dieses unerträgliche Apartment verlassen.