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10. März, 13:15 Uhr
Der Geruch von Essen stieg mir in die Nase und jetzt fiel mir auch wieder ein, wie hungrig ich war. Auf der gesamten Reise hatte ich nichts gegessen – außer einem labberigen Sandwich, das meinen Hunger eher angeregt als gestillt hatte. Mein Bauch meldete sich knurrend zu Wort.
Ich hörte, wie sich eine Tür geräuschvoll öffnete, dann sah ich Stefan gekonnt drei Teller mit dampfenden Spaghetti in Richtung des kleinen Esstisches neben dem Fernseher balancieren.
„Ich dachte mir, du hast bestimmt Hunger“, erklärte er. Zur Antwort knurrte mein Magen wieder. Er grinste. Ich stand auf und zog Jonas mit nach oben. Dann legte ich ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn zum Tisch.
Wir setzten uns und begannen schweigend zu essen. Ich stopfte die Nudeln förmlich in mich hinein. Ich bemerkte dabei aus dem Augenwinkel, dass Jonas nur lustlos in seinem Essen herumstocherte und nur ganz selten die Gabel zum Mund führte. Als ich ihn so sah, verging auch mir beinahe der Appetit und ich aß für einen Moment langsamer.
„Darf ich dich was fragen?“, bat mich Stefan.
Ich nickte.
„Woher kannst du so gut deutsch?“, erkundigte er sich lachend.
„Von meiner Mom. Sie hat es mir von klein auf beigebracht. Wenn wir alleine waren, hat sie immer deutsch mit mir geredet. Sie meinte, dass ich die Sprache, die mir von der anderen Seite der Familie gegeben war, auch sprechen sollte.“
„Oder sie wusste, dass sie dich irgendwann herschicken müsste, wenn sie auffliegen würde, und hat dich darauf vorbereitet“, warf Stefan ein.
Ich lachte. Dann wurde ich wieder ernst. „Für wen hältst du sie? Eine Hellseherin?“
Er zuckte übertrieben die Schultern. Wir lachten wieder leise.
„In der Schule habe ich dann einen Deutschkurs belegt“, fuhr ich fort. „Da war ich die beste. Aber ich habe viel dazugelernt, weil meine Mom ja auch nicht perfekt gesprochen hat.“
Er nickte grinsend. „Sie wollte sich auch nichts beibringen lassen.“ Er lächelte abwesend beim Gedanken an meine Mutter. „Erzähl mir etwas von dir“, forderte er mich nach einiger Zeit auf. „Schließlich habe ich viel nachzuholen. Ich wäre dir gern ein besserer Vater gewesen und hätte an deinem Leben teilgehabt. Mehr als nur durch diese Fotos. Erzähl mir alles.“
Ich legte die Gabel beiseite und begann zu reden. Ich erzählte von der Schule, von meiner Klasse, dass ich eigentlich kurz vor dem Abschluss stehen würde, das jetzt aber vergessen könnte, wenn ich noch lange hier blieb. Ich erzählte ihm von Holly. Als ich das tat, wurde meine Stimme immer leiser, bis sie schließlich ganz versagte und in ein leises Schluchzen überging. Ich dachte daran, dass ich meine beste Freundin hatte verlassen müssen, ohne ihr erklären zu können, warum. Sie würde sich ganz sicher Sorgen machen, wenn sie die Polizei vor meinem Haus sehen würde und mich nirgends finden könnte. Vielleicht würde sie denken, ich hätte wegen der Sache mit Dean etwas Dummes getan – würde Holly mir Selbstmord zutrauen?
Nach kurzer Zeit hatte ich mich wieder unter Kontrolle, doch als ich Stefan von meiner Mom erzählte, liefen mir wieder die Tränen über die Wangen. Ich merkte es erst, als Stefan mich unterbrach: „Du musst nicht über Lyla reden, wenn es nicht geht. Ich verstehe das.“
Ich wischte die Tränen weg. „Du wolltest
alles über mein Leben wissen“, erinnerte ich ihn mit mühsam beherrschter Stimme. Dann redete ich weiter. Ich war mit meinen Erzählungen bei dem Tag angelangt, an dem meine Mom gestorben war.
„Moment mal“, redete Stefan dazwischen, als ich erzählte, warum ich erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war. „Wer war noch mal Dean?“
Ich spürte förmlich, wie ich errötete und blickte nach unten. Dann erzählte ich ihm alles. Wie ich Dean das erste Mal gesehen hatte, als er in der achten Klasse an meine Schule gekommen war und gleich viele Kurse mit mir zusammen belegt hatte und ich mich auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte, mich aber bis heute nie getraut hatte, es ihm zu sagen. Dass ich mir ernsthaft Hoffnungen gemacht hatte, bei seiner Party endlich bei ihm landen zu können, aber dass ich wohl nie gut genug für ihn wäre, weil seine Freundinnen immer absolute Schönheiten waren.
Erst als ich alles erzählt hatte, fragte ich mich, warum ich das eigentlich getan hatte. Warum war ich nur so hoffnungslos ehrlich zu ihm gewesen? Es wäre keine Lüge gewesen, einige pikante Details für mich zu behalten. Fing ich jetzt schon an, ihn sogar besser zu behandeln als einen ‚richtigen’ Vater? Lag es daran, dass ich ihn noch nie gesehen hatte und das dadurch wieder gut machen wollte, indem ich ihm nichts – aber auch gar nichts – verschwieg?
Nicht nur, dass ich ihn wie einen Vater behandelte, jetzt schien er sogar schon anzufangen, sich wie einer zu
benehmen. „Ich glaube nicht, dass du nicht gut genug für ihn bist“, sagte er. „Eher bist du zu gut für ihn. Ich kenne ihn zwar nicht, aber nach dem, was du mir erzählt hast, scheint er zu oberflächlich zu sein.“
Ich antworte nicht, sondern aß schweigend meine mittlerweile kalten Spaghetti weiter. „Jetzt bist du dran“, forderte ich ihn auf, als der Teller leer war.
Er sah mich nur verständnislos an.
„Erzähl mir alles, was du über den Mord an meiner Mom weißt.“
„Das ist nicht mehr, als du eh schon weißt“, wich er aus. „Mathias hat mehr gewusst als ich, da bin ich sicher. So wie ich Lyla kenne, hat sie ihm alles erzählt, was sie wusste.“
Jonas zuckte zusammen, als er den Namen seines Vaters hörte.
„Sie hat geschrieben, sie wüsste nicht genau, wer es war“, berichtete ich. „Nur dass sie in letzter Zeit von einer anderen Organisation verfolgt wurde.“
„
GRA“, flüsterte Stefan. Auf meinen fragenden Blick erklärte er: „Das ist eine Organisation, mit der Lyla in der Vergangenheit schon öfter Probleme hatte. Vielleicht sollte ich dir doch erzählen, wie ich sie kennengelernt habe.“ Er seufzte. „Es war vor ungefähr zwanzig Jahren. Lyla war hier in Deutschland, lebte für einige Monate bei Mathias und arbeitete mit ihm, um die GRA auszuspionieren, denn obwohl sie international agieren, sind ihre Zentrale und ihr Ursprung in Deutschland. Lylas Organisation, die AIR-CW, arbeitet eng mit der deutschen Polizei zusammen, deshalb wurde ihr von Anfang an ein Partner von uns zugeteilt. Am Anfang hatte ich gedacht, sie wäre Mathias’ Freundin. Ich muss zugeben, dass ich in der Zeit ziemlich eifersüchtig auf ihn war, denn ich hatte mich auf den ersten Blick in die schöne Amerikanerin verliebt.“ Er lächelte abwesend. „Als Mathias mir dann erklärte, dass sie nur beruflich bei ihm wohnte und er eine ganz andere liebte, dauerte es nicht lange, bis Lyla und ich uns näher kamen. Zunächst wusste ich nicht, was ihr Beruf war, aber als sie bei der GRA aufflog, beichtete sie es mir und erklärte, dass sie nun nach Amerika zurück müsste. Ich wollte sie nicht verlieren und fasste schnell den Entschluss, mit ihr zu gehen. Die AIR-CW verwischte unsere Spuren und ich begann ein neues Leben in Amerika.“
„Und du meinst, dass diese Organisation“, führte ich seine Andeutungen weiter, „die GRA. Dass die…“
„Dass die sie irgendwie gefunden haben und sich gerächt haben für was auch immer damals vorgefallen ist“, ergänzte Stefan meinen unbeendet im Raum stehenden Satz. „Ja, das glaube ich. Aber ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, es ist nur eine Vermutung.“
„Hast du sie nie gefragt, warum sie plötzlich fliehen musste?“
„Doch, aber sie wollte es mir nicht sagen und deswegen habe ich auch nicht weiter danach gefragt.“
„War sie nicht noch zu jung für so was?“
„Wieso?“, fragte er irritiert zurück. „Sie war neunzehn und ich zwanzig. Nichts Ungewöhnliches in dem Alter, sich zu verlieben und miteinander durchzubrennen, oder nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Sie war neunzehn und wurde ins Ausland geschickt, um einen so gefährlichen Job zu machen?“
„Ein Auslandseinsatz gehörte zu ihrer Ausbildung“, erklärte mein Vater. „Mathias war damals auch erst zweiundzwanzig, aber er war nicht ihr einziger Partner, denn auch er steckte noch in der Ausbildung. Es waren noch zwei erfahrene Kollegen dabei, einer aus Amerika und einer von hier. Lyla und Mathias sollten von der Ausbildung an als Team eingespielt werden, um sich im Ernstfall voll und ganz aufeinander verlassen zu können.“